Um gesund zu bleiben, dürfen wir nicht zu lange und ungünstig sitzen. Doch laut einer Langzeitstudie der Universität König Juan Carlos (URJC) in Madrid sitzen in der EU immer mehr Menschen über 4,5 Stunden täglich. Egal, ob am Schreibtisch, auf Stühlen oder auf dem Sofa.
Ab 4,5 Stunden Sitzzeit wird es aber laut Forschern der URJC kritisch. Denn dann beginnen Kreislauf, Stoffwechsel und Durchblutung herunterzufahren. Unsere Atmung verflacht, die Bewegungen „rosten ein“. Und das lässt Folgeerkrankungen wie Immunstörungen, Diabetes Typ 2 oder chronische Rückenschmerzen aufkommen.
Auf die Mikropausen kommt es an
Um solchen Szenarien vorzubeugen, empfiehlt Heiko Jeretzky besondere Bürostühle, die zu Mikropausen und Änderung der Sitzposition animieren. Der Physiotherapeut und Inhaber Heiko Jeretzky von „Rückenwind“ in Hannover, ein Geschäft für ergonomische Lösungen, rät seinen Kunden, ihren Arbeitsalltag so anzupassen, dass möglichst viele Aufsteh- und Gehunterbrechungen erfolgen.
Allerdings setzen viele Unternehmen erst auf ergonomische Arbeitsumgebungen, wenn die Rückenprobleme bereits chronisch geworden sind. Das müsste nicht so sein. Heiko Jeretzky ist seit 25 Jahren vom Credo überzeugt: Wer gut analysiert, kann durch gezielte Empfehlungen Belastungen besser minimieren und seine wertvolle Arbeitskraft erhalten. So macht es Jeretzky beim Beratungsprozess im Geschäft: Er vereinbart einen Termin, nimmt sich ausreichend Zeit und mithilfe seiner „physiotherapeutischen Brille“ geht er individuell auf den Kunden ein, um eine dauerhafte Lösung für dessen Probleme zu finden.
Ein guter Stuhl für jeden
„Ein Bürostuhl muss der Physiognomie und dem Bewegungsverhalten des Menschen nachkommen“, verdeutlicht Jeretzky. „Er muss ihn in jeder Position und Situation optimal unterstützen.“ Ideal sei es zudem, wenn der Stuhl hilft, statische Positionen zu unterbrechen, um entweder eine entspannte oder aktive Position einzunehmen. Auch sollte der Stuhl bequem sein, so lassen sich Verspannungen gezielt reduzieren.
Er müsse viele Jahre lang für acht bis zehn Stunden am Tag funktionieren. Das ist viel Belastung für den Stuhl, es erfordert eine gute Verarbeitung und natürlich ein nachhaltiges Konzept. So sollten Ersatzteile auch nach zehn und mehr Jahren verfügbar sein und der Stuhl am Ende seiner Nutzungszeit zum großen Teil recycelbar.
Auch sein Kollege Kaprel Demircioglu, Leiter des Büromöbelunternehmen balans GmbH in Frankfurt weiß, worauf für einen guten Bürostuhl zu achten ist: „Er sollte zur Körperstatur des Benutzers passen und individuell einstellbar sein, in der Sitzhöhe und Sitztiefe sowie einer Rückenlehne mit Lordosenstütze.“ Dazu solle er viel Dynamik und viele Bewegungsmöglichkeiten ermöglichen. Letztlich käme es auf die Person, ihre Bewegungsmuster und üblichen Arbeitsaufgaben an: „Sitzmöbel wie Stühle, Hocker oder Stehhilfen müssen nicht nur zum Menschen, sondern auch zur Arbeitsaufgabe passen.“
Falsche Büromöbel verschlechtern Arbeitsqualität
Auch wenn ein wahrhaft gesundheitsschonender Bürostuhl 800 bis 1.300 Euro kostet, scheint die Investition sinnvoll. Häufig ist in dieser Preisklasse auch eine 10-jährige Garantie und die Möglichkeit der ergonomischen Voreinstellung dabei. Im Extremfall kann ein guter Bürostuhl aber auch sogar bis zu 2.000 Euro kosten. Wer durch seinen Stuhl unzureichend unterstützt wird, kann laut des Physiotherapeuten Jeretzky „keine 30 bis 40 Jahre“ ohne körperliche Einschränkungen berufstätig sein.
Auch die Arbeitsleistung ist häufig eingeschränkt: Wer mit Schmerzen arbeitet, kann sich nicht gut konzentrieren, was häufig zu schlechten Arbeitsergebnissen führt. Es führt zu Unproduktivität und schlechter Laune. Das wirkt sich wiederum auf Team und Teamleistung aus. Hier stecken weitere Opportunitätskosten, insofern mögliche „Mehrleistungen“ nicht erbracht werden.
Die häufigsten Probleme von Office Professionals
Ungefähr 80 Prozent aller Büroarbeitenden haben ganz klassische Probleme im Schulter-Nacken-Halswirbelsäulen- und im Lendenbereich. 20 Prozent haben weitere Vorerkrankungen, die erst recht besondere Stühle fordern. Hier sind unter anderem Bandscheibenvorfälle, Blockaden, Hüftdysplasie, Morbus Bechterew, Skoliose und Durchblutungsstörungen zu nennen.
Viel wichtiger als die Vorerkrankungen der Mitarbeitenden zu kennen sei aber, präventiv zu handeln. Wie stark sie mit richtigen Stühlen helfen konnten, haben Kaprel Demircioglu und Heiko Jeretzky erlebt. Der balans-Möbelunternehmer Demircioglu nennt ein eindrucksvolles Beispiel: „Eine körperlich stark behinderte kleine Person mit verkrümmter Wirbelsäule und Beinen konnte sich nur mithilfe von Krücken von A nach B bewegen. Sie musste sich beim Aufstehen am Tisch festhalten und darauf achten, dass der Stuhl nicht nach hinten wegrollt.“
Auch Ordner auf einem Regal habe die Frau nur mithilfe von Teammitgliedern bekommen. Doch durch die ausführliche Beratung über ergonomisch und zum Teil synchronomisch funktionierende Büromöbel benutzt sie nun einen Bürostuhl mit einer Feststellbremse und einer elektrischen Aufstehhilfe. Diese hievt sie heute bis zu 30 Zentimeter in die Höhe. „So kann sie jetzt selbstständiger, sicherer, produktiver und vor allem selbstbewusster arbeiten“, erzählt Demircioglu.
Auch bei Heiko Jeretzky gab es besonders eindrucksvolle Fälle. „Bei einem meiner Kunden stand eine Frühverrentung an, weil er nicht mehr eine Stunde schmerzfrei sitzen konnte.“ Der Mann habe, nachdem sein Alltagsprozess analysiert wurde, durch eine optimale Anpassung sämtlicher „Werkzeuge“ wie Stuhl, Steh-Sitz-Tisch, Tastatur, Maussystem und dem Bewusstsein über den Zusammenhang seiner orthopädischen Probleme mit dem Arbeitsplatz und der Möglichkeit, diesen zu optimieren, zurück ins Arbeitsleben gefunden: „In vielen Situationen erleben Firmen, dass ihre Arbeitnehmenden durch z. B. Bandscheibenvorfälle häufig lange Fehlzeiten haben.“ Dann sei die Not natürlich groß, da Teammitglieder sie ersetzen müssen. Deshalb entscheiden sich Firmen oft sehr schnell, auf präventive Maßnahmen wie etwa Möbel zu setzen.
Feinjustierung am Arbeitsplatz
Die in Deutschland meist verkauften Stuhlkonzepte haben eine Synchronmechanik. Diese führt durch die plane Sitzfläche zum 90-Grad-Winkel der Knie und Hüfte. Doch das ist laut Experten auf Dauer ungünstig, denn diese großen Gelenke brauchen Raum für Muskeln, Bänder, Sehnen, Gefäße, Nerven etc. Des Weiteren verliert man meist den Kontakt in der Lendenwirbelsäule beim Zurücklehnen, was dazu führen kann, diese „Entspannungsposition“ nicht mehr zu nutzen. Auch das „Auf-der-Kante-Sitzen“ ist nicht zielführend, denn die hohe Haltearbeit der Muskulatur führt zu Verspannungen.
Sitzmöbelexperten empfehlen daher andere Konzepte, weiß Jeretzky: „Der Rückenlehnenwinkel bleibt während der Kippung nach hinten konstant. Durch diese Mikropausen kommt es zu einer Entspannung von Körper und Geist.“ Nach der Beratung und Auswahl des passenden Stuhls erfolgt bei Lieferung die Justierung und Erklärung am Arbeitsplatz. „Ein Produkt wird erst im Kontext zu seinem Nutzer und dessen individuellen Bedürfnissen und seiner Arbeitswelt zu einem ergonomischen Produkt“, sagt Jeretzky.