Der Lipstick-Effekt – oder was Lippenstifte mit der Konjunktur zu tun haben
In der schweren Wirtschaftskrise in den 1930ern kauften die Menschen in den USA mehr Lippenstifte. Ein ähnliches Phänomen hatte auch Leonard Lauder, damaliger Chef des Kosmetikherstellers Estée Lauder, nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 beobachtet: Der Absatz der hochpreisigen Lippen-Kosmetik war signifikant gestiegen.
Die US-amerikanische Ökonomin Juliet B. Schor schreibt in ihrem Buch „The Overspent American“ vom Kauf prestigeträchtiger Lippenstifte, speziell von Chanel. Der Hauch von Luxus, mit dem frau sich in der Öffentlichkeit zeigt – im Vergleich zu den günstigeren Varianten, die zu Hause vorm Badezimmerspiegel aufgetragen werden.
Alltagsluxus: sich trotz allem etwas leisten
„Wenn in Krisenzeiten keine großen Ausgaben drin sind, reicht auch mal eine hübsche Kleinigkeit“, erklärte die Tagesschau. Große Anschaffungen seien in Zeiten der Inflation für viele kaum mehr realisierbar. Da sei Alltagsluxus gefragt – wie zum Beispiel dekorative Kosmetik. Eben dieses Phänomen beschreibt der sogenannte Lipstick-Effekt.
Auch Pizzas und Tiefkühlkost im Allgemeinen gelten als Rezessions-Indikatoren. Die Umsätze stiegen in der Vergangenheit kurz vor einem wirtschaftlichen Abschwung teils sprunghaft an, berichtete „The Week“.
Der Mechanismus hier: Tiefkühlpizza ist die kostengünstige Option für ein Familienessen und für Menschen, die aufs Budget schauen müssen, die Nummer Eins. Dubai-Schokolade und die Labubus-Plüschtiere sind laut dem Surplus Magazin der neueste Trend als „Recession Indicator“.
Die Finanzkrise 2008 habe das kollektive Gedächtnis der Millennials geprägt, die aktuelle Polykrise das der Gen Z – jeweils begleitet von popkulturellen Endzeit-Indikatoren. „Die Technologie sollte uns in die Zukunft katapultieren, uns das Leben erleichtern, das Tor zum Wohlstand für alle öffnen“, so das Wirtschaftsmagazin. Wegen der begrenzten Aufstiegs- und Wohlstandsmöglichkeiten bringen kleine Gimmicks im Alltag die Millennials den reichen Influencern zumindest ein Stück weit näher, so skizziert Surplus den Zusammenhang.
Memes als Rezessions-Indikatoren
Doch der schlechte Zustand der Wirtschaft und in der Welt sei spürbar. Er nage am eigenen Selbstverständnis, sich einen gewissen Lebensstandard aufbauen zu wollen, und am Vertrauen in eine bessere Zukunft mit Frieden und ohne Klimawandel.
Der Begriff „Recession Indicators“ ist in den sozialen Medien aus dem übermäßigen Trend-Konsum heraus entstanden und bezeichnet laut Surplus in der bekannten ironischen Manier der Gen Z Alltagsphänomene, die auf eine Rezession hinweisen.
So haben sich in der Generation Z auch Memes, also bildhafte Insider-Witze in den sozialen Medien, zu Rezessionsindikatoren entwickelt. Youtuber haben beispielsweise die schafthohen Converse-Schuhe als einen solchen erkannt – ganz nach dem Motto: „Wenn ich für einen Schuh bezahle, bekomme ich so viel Schuh wie möglich.“
Wenn hier auf den sozialen Medien über das Revival von Capri-Hosen, das Comeback-Album von Justin Bieber mit dem Titel Swag – Lieblings-Slang- Begriff der 2000er-Jahre – oder die Wiedervereinigung von Oasis gewitzelt wird, dann ist das die Art und Weise junger Menschen angesichts der wirtschaftlichen und politischen Gemengelade mit einem Gefühl eines vorstehenden Untergangs umzugehen, erläutert das Lifestyle-Magazin SheKnows.
Memes sind Medienberichten zufolge also ein popkulturelles Frühwarnsystem für Wirtschaftskrisen, quasi TikToks Version von Rezessionsindikatoren. Nun sind Meme-Rezessionsindikatoren zwar kein wirtschaftlicher Begriff, werden aber von Wirtschaftsmedien und Konsumforschenden gerne aufgegriffen, zumal sich Phänomene wie der Lipstick-Effekt oder das Tiefkühlpizza-Phänomen auch in Statistiken zeigen können. Hier wird Konsumverhalten als Gradmesser der Wirtschaft genutzt. Ob sie immer richtig liegen, das sind sich nicht alle Fachleute einig.
Nicht jeder Markt ist stereotyp
Eine präzise Vorhersage ist ohnehin nicht leicht. Auch die klassischen Konjunktur-Indikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP), die Arbeitslosenquote oder Auftragseingänge funktionieren eher als Hinweise, um Politik und Wirtschaft Orientierung zu geben. Genaugenommen ist ein Konjunkturindikator eine statistische Größe, die den aktuellen Zustand oder die Entwicklungstendenz der Gesamtwirtschaft anzeigt, definiert StudySmarter die wichtigen Kennzahlen für wirtschaftliche und politische Entscheidungen.
Weil aber die Wirtschaftsrealität hochkomplex ist, kommt es bei Indikatoren auf den Kontext an. So gibt es Früh-, Präsenz- und Spätindikatoren. Jeder Typ beleuchte die Wirtschaft aus einer anderen zeitlichen Perspektive, erläutert die Lernplattform.
Als Echtzeit-Indikator für Rezessionen in den USA gilt beispielsweise die Sahm-Regel, benannt nach ihrer Schöpferin, der Wirtschaftswissenschaftlerin Claudia Sahm. Die Sahm- Regel vergleicht die aktuelle Arbeitslosenquote mit ihrer jüngeren historischen Entwicklung. Konkret löst die Regel ein Rezessionssignal aus, wenn die Differenz zwischen diesen beiden Werten 0,50 Prozentpunkte oder mehr beträgt, erklärt es das Börsen-Magazin Morpher. Das deute darauf hin, dass die Wirtschaft in eine Rezession eintritt.
Investoren, Unternehmen und Politik beobachten die Sahm-Regel meist sehr genau. Auch weil es über die Jahrzehnte keinen Fehlalarm gab. „Seit 1970 hat die Sahm-Regel durchweg jede Rezession erkannt, ohne einen Fehlalarm auszulösen“, heißt es in einem Blogbeitrag von Erste Asset Management. Erst im vergangenen Jahr war das Ergebnis nicht ganz so eindeutig. Verschiedene Faktoren in den USA könnten die Entwicklung der Arbeitslosenquote dort beeinflusst haben, erklärte Claudia Sahm.
Für Deutschland, Europa oder die Eurozone gibt es keinen entsprechend einfachen, standardisierten Echtzeit-Indikator wie die Sahm-Regel. Nicht jedes Land, jeder Markt sind stereotyp vergleichbar.