Am 13.9.2022 hat das Bundesarbeitsgericht mit einer überraschenden Entscheidung (Az. 1 ABR 22/21) festgestellt, dass es eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung längst gibt. Seit diesem Urteil stellen sich viele Unternehmen die Frage: Müssen wir die Arbeitszeiten unserer Mitarbeiter nun wieder detailliert erfassen, obwohl wir hier feste Vorgaben machen? In welcher Form muss die Erfassung vorliegen, wenn beispielsweise keine elektronische Zeiterfassung vorliegt? Kurzum: Besteht für die betriebliche Praxis nun Handlungsbedarf oder nicht?
ARBEITSZEITERFASSUNG IST PFLICHT
Auch wenn Sie Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit sowie der Pausen genau festlegen, sind Sie zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet. Denn Ihre Mitarbeiter könnten tatsächlich länger arbeiten und so die Grenzen des Arbeitszeitgesetzes überschreiten. Dass dies nicht geschieht, können die Aufsichtsbehörden nur anhand einer detaillierten Arbeitszeiterfassung überprüfen. Lange Zeit wurde darüber spekuliert, ob das Urteil ein Ende der Vertrauensarbeitszeit bedeutet – doch dies ist nicht der Fall. Bei Mitarbeitenden, die Vertrauensarbeitszeit haben, gilt, dass diese ihre Arbeitszeiten eigenverantwortlich planen und dafür sorgen, das mit ihrem Arbeitgeber vereinbarte Volumen tatsächlich zu erfüllen.
WELCHE ZEITERFASSUNGSSYSTEME ERLAUBT SIND
Es gibt keine Vorgaben, wie dies in der Praxis zu geschehen hat (handschriftlich, Stechuhr, elektronische Zeiterfassung) bzw. ob der Arbeitgeber diese Aufgabe auch an seine Arbeitnehmer delegieren kann. Auch Beschäftigte in Vertrauensarbeitszeitmodellen oder in mobiler Arbeit sind laut dem Ministerium zur Erfassung ihrer Arbeitszeit verpflichtet. Die Kriterien für die Zeiterfassung, die vorgegeben sind, lassen einen großen Interpretationsspielraum, denn die Erfassung soll „objektiv, verlässlich und zugänglich“ geschehen. Die meisten gängigen Systeme bieten sowohl Personalverantwortlichen als auch Mitarbeitern einen transparenten und nachvollziehbaren Überblick über erfasste Arbeitszeiten und Abwesenheiten.
Da es sich in den meisten Fällen mittlerweile um Cloud-Lösungen handelt, bestehen auch keine Einschränkungen, was die Erfassung im Homeoffice oder beim mobilen Arbeiten anbelangt. Wenn Mitarbeiter vor Ort im Betrieb arbeiten, bietet sich die Zeiterfassung per Stechuhr, Kartenlesegerät oder Chip an. Alternativ kann die Zeiterfassung beispielsweise auf Papier, per App oder in einem Excel-Tool erfolgen. Diese Varianten können Ihre Mitarbeiter dann auch problemlos im Homeoffice oder unterwegs nutzen.
„UNGEWOLLTE“ ÜBERSTUNDEN
Grundsätzlich müssen Arbeitgeber nur solche Überstunden bezahlen, die sie veranlasst haben, weil sie angeordnet, (nachträglich) genehmigt oder geduldet wurden oder weil die Überstunden zur Erledigung der geschuldeten Arbeit erforderlich waren. Wenn Arbeitgeber also feststellen, dass ein Mitarbeitender die vorgegebenen Arbeitszeiten eigenmächtig überschreitet, später aufhört oder vorgeschriebene Pausen auslässt, sollte man sie bzw. ihn schriftlich dazu veranlassen, dies zu unterlassen.
VIDEOKAMERA-ERFASSUNG NICHT ERLAUBT
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen hat am 6.7.2022 (8 Sa 1148/20) entschieden, dass eine Videoüberwachungsanlage an den Eingangstoren eines Betriebsgeländes zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeiten in der Regel weder geeignet noch erforderlich ist. Sie ist deshalb nur mit Zustimmung des jeweiligen Mitarbeiters oder aufgrund einer Betriebsvereinbarung zulässig (§ 26 Abs. 3 und 4 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG)). Dasselbe gilt für Zeiterfassungssysteme, die biometrische Verfahren wie Fingerabdruck oder Irisscan nutzen (LAG Berlin-Brandenburg, 4.6.2020, 10 Sa 2130/19).
VORTEILE FÜR ARBEITGEBER
71 Prozent der Arbeitnehmer wünschen eine Arbeitszeiterfassung, das zeigt eine Umfrage unter 1 000 Arbeitnehmern, die das Marktforschungsinstitut Appinio Ende September 2022 im Auftrag des Jobportals Indeed durchgeführt hat. Arbeitnehmer versprechen sich von der Arbeitszeiterfassung eine gerechtere Bezahlung bzw. auch, dass geleistete Überstunden abgebaut werden können. Nur 15,4 Prozent der Befragten fürchten, dass eine Arbeitszeiterfassung dazu führt, dass sie sich ihre Arbeitszeit weniger flexibel einteilen können. Etwa 11,5 Prozent fürchten, dass sie infolge der Arbeitszeiterfassung mehr arbeiten müssen. Sie arbeiten derzeit offenbar weniger als vertraglich vereinbart.
QUIET QUITTING SETZT GRENZEN
Besonders die junge Generation der ab 1995 Geborenen legt der obigen Umfrage zufolge Wert auf eine Erfassung der Arbeitszeit, um Überstunden zu reduzieren und so eine Balance zwischen Beruf und Privatleben zu erreichen. Dazu passt der Begriff des „Quiet Quitting“, der derzeit für Aufregung sorgt. Die wörtliche Übersetzung „stille Kündigung“ trifft nicht wirklich, was Quiet Quitting meint. Es geht hier nicht um Menschen, die nur das Nötigste tun und ihren Arbeitgeber verlassen, sobald sich eine Chance ergibt, um anderswo mehr Geld zu verdienen. Für sie geht es vielmehr darum, das zu tun, wofür sie bezahlt werden.
Die Ursachen für Quiet Quitting können sowohl beim Arbeitgeber als auch beim Mitarbeiter liegen. Es kann die Reaktion darauf sein, dass …
- (unbezahlte) Überstunden im Unternehmen als selbstverständlich angesehen werden oder
- ein Mitarbeiter aufgrund seiner veränderten Lebenssituation (z. B. kranke Angehörige) sein bisheriges Pensum nicht mehr schafft oder
- seine Ressourcen und Fähigkeiten in der bestehenden Position nicht angemessen eingesetzt werden.
Wenn Fluktuation verhindert werden und die Arbeitgeber-Marke attraktiv bleiben soll, sollten Arbeitgeber genau hinsehen und beispielsweise prüfen, ob es Bedarf und Möglichkeiten gibt, die Arbeitszeiten im Unternehmen besser an die Bedürfnisse der Mitarbeiter anzupassen. Arbeitszeiterfassung und Flexibilität sind hierbei kein Widerspruch.
SO PROFITIEREN ARBEITGEBER VON ARBEITSZEITEN, DIE DIE BEDÜRFNISSE DER MITARBEITER BERÜCKSICHTIGEN:
- Die Mitarbeiter fehlen seltener, weil sie weniger überlastet sind und private Termine außerhalb der Arbeitszeit erledigen können.
- Die Mitarbeiter stellen das Unternehmen nach außen besser dar, weil sie sich wahrgenommen fühlen und deshalb zufriedener sind.
- Eventuell können Servicezeiten verlängert werden, weil Randzeiten für einige Mitarbeiter attraktiv sind.
- Arbeitgeber sparen sich Kosten für Rekrutierung und Einarbeitung, weil die Mitarbeiter „treu“ bleiben.