Sehr gut möglich, dass Sonja Trautwein von ihrer heutigen Tätigkeit noch nie gehört hatte, als sie 1999 nach dem Abitur mit einer Ausbildung zur Verlagskauffrau begann. Wenige Jahre zuvor hatten die beiden US-Programmierer Ken Schwaber und Jeff Sutherland eine neue agile Arbeitsmethode in der Software-Entwicklung vorgestellt, 1995 gab es einen ersten Konferenzbeitrag zu „Scrum“, 2010 wurde der erste Scrum Guide veröffentlicht. Seitdem wird der Begriff, der eigentlich aus dem Rugby-Sport stammt und so viel wie „Gedränge“ bedeutet, immer geläufiger. Sonja Trautwein muss trotzdem regelmäßig erklären, was sie eigentlich genau macht als Scrum Masterin. Dann erzählt sie von „ihrem“ Team, das sie seit November letzten Jahres betreut, vom täglichen „Daily“ am Morgen, vom „Backlog“ und vom „Sprint“, von „Retro“ und von „Review“ – agile Neue Arbeit eben.
PROJEKTMANAGEMENT UND NEW WORK
Das an sich klingt schon alles ziemlich interessant. Vor allem aber möchte man wissen, wie man so etwas wird, Scrum Masterin. Bei Sonja Trautwein kommt man nach einem Blick in ihren Lebenslauf schnell zu dem Schluss, dass es schon früh in diese Richtung ging, nur eben noch ohne das Wissen um dieses spannende Job-Profil. Nach der Ausbildung zur Verlagskauffrau wurde sie Anfang 2002 zunächst Team-Assistentin bei Springer Fachmedien Wiesbaden. In den folgenden 18 Jahren erweiterte sie dort stetig ihren Verantwortungsbereich: Nach der Team-Assistenz folgte die Bereichsleitungs-Assistenz, dann Redaktionsassistenz und schließlich Projektmanagerin der Karrieremesse „career@office“ (heute als Assistants‘ World unter dem Dach des VNR Verlag).
Ein dreijähriges berufsbegleitendes BWL-Studium an der VWA Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie in Mainz war sicher ausschlaggebend dafür, dass der Sprung in die eigenverantwortliche Projektbetreuung gelang, bis hin zur Projektmanagerin Lektorat Psychologie bei Springer Fachmedien Wiesbaden. Mit dem Wechsel zu ihrem heutigen Arbeitgeber, der R+V Versicherung, ging es dann quasi in die Zielgerade: Als IT-Organisatorin übernahm sie das Projektmanagement Office New Data Center und von weiteren Projekten und bildete sich schließlich zur Scrum Masterin weiter, im April 2021 erhielt sie ihr Zertifikat.
„Die erfolgreiche Arbeit in diesem noch recht neuen Bereich lebt von der Erfahrung“, sagt Sonja Trautwein, „ich ging deshalb zunächst zu einem anderen Unternehmen, um mir anzuschauen, wie dort agil gearbeitet wird.“ Weil ihr Einsatz als Projektmanagerin und Scrum Masterin bei der Firma mit vielem Reisen verbunden war, entschied sie sich jedoch bald wieder um. Denn mittlerweile war sie auch Mutter von zwei Töchtern, „und obwohl mein Mann und ich uns die Familienarbeit teilen, war das viele Unterwegssein mit dem Familienleben nicht gut vereinbar.“
EIN ERSTES EIGENES TEAM
Im November 2022 stieg sie wieder bei ihrem Arbeitgeber R+V Versicherung ein, jetzt als Scrum Masterin, und übernahm ein bereits laufendes Team. „Es ist zwar sicher schön, wenn man zusammen mit dem Team startet, aber es ist nicht wirklich notwendig. Die agile Arbeitsweise macht genau so etwas ja möglich“, erklärt sie. Mit ihr sind es sieben Team-Mitglieder, „neben mir gibt es noch eine weitere Frau, ansonsten alles Männer.” Das sei immer noch ziemlich normal bei IT-Projekten, spiele aber in der Zusammenarbeit keine Rolle. Ihr Team hat die Aufgabe, die Schnittstellen zwischen den einzelnen IT-Anwendungen zu managen, mit dem Ziel, einen möglichst reibungslosen Datenfluss und eine störungsfreie Kommunikation zu gewährleisten. „Das ist ein ziemlich komplexes Thema“, sagt die Scrum Masterin, „und ich kann technisch nicht wirklich tief mitreden, aber ich verstehe mit der Zeit immer mehr.“ Diese Perspektive von außen ermögliche ihr dafür manchmal auch Fragen, auf die Insider selbst womöglich nicht kommen würden, die aus Anwender-Sicht aber durchaus wichtig sein können.
DAS PROBLEMLÖSEN STEHT IM VORDERGRUND
Als Scrum Masterin ist es aber auch gar nicht ihre Aufgabe, technisch mitzureden. Ihr Job ist es, das Team bei der Arbeit zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass die gesetzten Ziele erreicht werden. Dabei agiert das Team weitgehend selbstständig. Sonja Trautwein läuft, bildlich gesprochen, wie ein Coach am Spielrand mit und behält alle Abläufe im Blick, versucht, Probleme rechtzeitig zu erkennen und bei einer Lösung zu unterstützen, erspürt die Team-Dynamik und sorgt dafür, dass alle möglichst punktgenau die Informationen zur Verfügung haben, die sie gerade brauchen.
Mit der jahrelangen Erfahrung im Projektmanagement fiel es ihr leicht, von der klassischen Methode auf Scrum umzusteigen und sich mit dem typischen Vokabular vertraut zu machen, und auch das etwas andere Rollenverständnis der einzelnen Funktionen gefällt ihr gut. „Es geht bei meiner Aufgabe weder um eine Art Einpeitschen nach dem Push-Prinzip noch muss ich Arbeitsergebnissen hinterherlaufen.“ Aber jedes Team komme immer wieder mal an seine Grenzen, „und das versuche ich mit den richtigen Fragen herauszukitzeln, damit wir alle gemeinsam rechtzeitig gegensteuern können.“
REMOTE WORK MIT PRÄSENZ-PHASEN
Das Homeoffice ist auch bei R+V mittlerweile eine gefragte Option. Das Unternehmen geht mit unterschiedlichen Modellen auf diese Bedürfnisse der Mitarbeitenden ein, durchschnittlich zwei Präsenz-Tage die Woche sind aufs Quartal gesehen in der IT erwünscht. Sonja Trautweins Team hat sich auf einen gemeinsamen Team-Präsenz-Tag pro Woche im Firmen-Office geeinigt, „das ist einerseits wichtig, um die Stimmung im Team mitzukriegen, aber auch, damit alle auf dem Laufenden sind, woran die einzelnen Team-Mitglieder gerade arbeiten.“
Darum geht es dann auch in den morgendlichen Dailys, ein 15- bis zwanzigminütiger Video-Call für alle. „Das ist allerdings weniger ein Statusbericht, sondern eher ein Zuruf aus der Gruppe, wer welche Infos gerade von wem benötigt.“ Nach der täglichen kurzen Teams-Konferenz telefoniert Sonja Trautwein entweder mit einzelnen Team-Mitgliedern, um Details zu besprechen, oder sie trifft sich mit den anderen Scrum-Mastern aus der Abteilung oder gar von ganz R+V. „Ich habe mich bewusst für eine agile Arbeitsweise entschieden“, sagt die Scrum Masterin, „mir gefällt diese dynamische Arbeitsweise. Es kann immer wieder vorkommen, dass Dinge anders laufen als gedacht oder geplant. Dann muss man eben umdenken. Das war eigentlich schon immer so, aber bei der agilen Arbeitsweise guckt man einfach regelmäßiger darauf.“
ZIEL: IRGENDWANN NICHT MEHR GEBRAUCHT ZU WERDEN
Auch ihr eigenes Umfeld wechselt dementsprechend immer wieder. „Es ist sogar erklärtes Ziel der Scrum-Methode, dass sich der Master oder die Masterin irgendwann überflüssig machen und das Team allein weiterläuft“, erklärt sie. Dann bekommt sie ein neues Team oder steigt in eines ein, bis auch das wieder selber weiterlaufen kann. Zu dieser Organisationsform gehört es auch, immer auf dem neuesten technologischen und methodischen Stand zu sein. Ständige Fortbildung ist für sie längst eine Selbstverständlichkeit, und ein Wachsein für alles, was mit dem Thema zu tun hat.
„Kürzlich habe ich von dem Begriff der Ambidextrie gelesen. An sich kein neuer Begriff, aber meines Erachtens sehr treffend für das, worum es beim agilen Arbeiten geht: Eine Balance zu finden zwischen Stabilität und Innovation.“ Ihre eigene Work-Life-Balance findet die 43-Jährige im Familien- und im Freundeskreis, „ich habe mich aber auch viel mit den Themen Meditation und Achtsamkeit beschäftigt.“ Wenn sie es schafft, steht sie schon mal mit dem Sonnenaufgang auf für eine Meditation, und am Abend tanzt sie gern, „da kann ich mich dann richtig auspowern.“ Da tanzt sie dann allerdings solo, vielleicht als eine Art Ausgleich zum immerwährenden Miteinander im Job – die Balance muss eben ganz einfach stimmen.